Der
niederländische Schriftsteller Cornelius Johannes Jacobus Maria (Cees)
Nooteboom, geboren 1931 in Den Haag, ist u.a. als Reiseschriftsteller
bekannt geworden. Neben Romanen (mit Rituelen/Rituale 1980/1985
erlangte er erstmals internationale Aufmerksamkeit, Allerzielen/Allerseelen,
1998/1999) und Gedichten (De doden zoeken een huis, 1956; Orgamon-Poesie,
Auswahl 1964) ist das Reisen für Nootebooms Literatur prägend. Bereits in den 1950er
Jahren machte er sich als Leichtmatrose auf einem Schiff in die Karibik
verdient, wo er dann 1957 seine erste Frau Fanny Lichtveld heiratete. Es
folgten zahlreiche Reisen nach Amerika und durch Europa, darunter Spanien und
Berlin. Zu seinen Reisezielen gehörte auch Italien – Venedig. Als Lyriker,
Romancier und Reiseschriftsteller bekannt, wird er in Deutschland inzwischen
intensiver rezipiert als in seinem Herkunftsland, den Niederlanden. Während ihn
in Deutschland Marcel Reich-Ranicki und Rüdiger Safranski hervorgehoben und ins
Gespräch für den Literaturnobelpreis gebracht haben, bleibt er in den
Niederlanden offenbar eher ein Außenseiter, den man nicht zu den „großen Drei“
der holländischen Nachkriegsliteratur – Willem Frederik Hermans, Harry Mulisch
und Gerard Reve – zählen möchte. Diese internationale Verschiebung des
Interesses an Nooteboom wollen wir hier zum Anlass nehmen, um einige Stücke
seiner essayistischen Kurzprosa über Venedig aus den Jahren 1982 bis 2012 zu
präsentieren, die auf 113 Seiten in der Insel-Bücherei (Nr. 1386) unter dem
Titel Venezianische Vignetten (2013) erschienen sind und zumindest
indirekt auf die Literatur- und Kulturbeziehungen Deutschlands zu Italien
verweisen. Denn es ist nicht nur erneut die Insel-Bücherei, die sich als ein
wertvoller Fundus der Literatur zum Thema Italien erweist – vergleiche „Ein
Buch und eine Meinung“, Folge 1 –, sondern es ist auch der Suhrkamp-Verlag, der
seit 2003 eine Werkausgabe Nootebooms herausgibt und damit belegt, wie wichtig
Nootebooms Literatur nicht nur aus deutscher Perspektive, sondern auch für
die deutsche Perspektive ist.
Bei
seiner Anreise nach Venedig erinnert sich der Erzähler an seinen ersten
Venedig-Besuch, der wie ein „Pfeilschuß“ (S. 12) gewirkt hat, ganz im Gegensatz
zu seiner jetzigen Anreise, bei der sich Venedig langsam im Nebel abzuzeichnen
beginnt. Es ist also offenbar nicht so einfach wie in Neapel – „Neapel sehen
und sterben“ (Goethe) –, sondern viel schwieriger diese Stadt zu begreifen. In
der Wahrnehmung des Erzählers schwebt Venedig zwischen Verwirrung und
Entzückung und gleicht einem Mosaik von Beobachtungen, das wohl nie ein
vollständiges Bild erwarten lässt. „Wieviel wohl alle Augen zusammen wiegen,
die diesen Platz gesehen haben?“ (S. 12), fragt der Erzähler gleich zu Beginn
der ersten Vignette als er auf der Piazza San Marco steht und damit die
Komplexität der Venedigerfahrung andeutet. Entsprechend beschreiben die
Reise-Miniaturen ein visuelles und geistiges Irrwandeln des Erzählers durch
Venedig, einen modernen Flaneur, der Gebäude, Kirchen und Plätze ebenso
erforscht wie die Wahrnehmungstradition dieser alten und berühmten Stadt in
Gemälden, Skulpturen und Texten. Dabei fokussiert der Erzähler weniger
kunsthistorische Aufarbeitungen als die Beobachtung eines „mobilen Gemäldes“
(S. 11), des Aufpralls der Kunstgeschichte und Kultur auf die Sinnlichkeit und
Banalität des Alltäglichen: „Marmorfestungen“ stoßen auf „das erstickte
Geräusch der Fernseher“ (S. 13) und die älteste Kirche Venedigs, San
Giacometto, „gleicht einem Wohnzimmer, in dem die Bewohner ihre Mäntel
anbehalten haben“ (S. 40). Die Berichte und Beschreibungen von Gemälden und
Skulpturen zitieren die Kunstgeschichte allenfalls an: „Das sind Dinge, die die
Kunstgeschichte weiß (…)“ (S. 81), heißt es in einer der Vignetten und der
Erzähler beschließt das Gesehene nur „der Einfachheit halber modern [zu]
nenne[n]“ (S. 81). Der Aufprall der Kunst auf den Alltag erzeugt ein Schwanken
des ziellos herumlaufenden Erzählers, das der Bewegung der Wasseroberfläche
gleicht, die Sinnbild für den Chiasmus von Vergangenheit und Gegenwart, von
Tradition und Moderne, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie von Venedig und
Amsterdam ist. Auch die Passanten Venedigs erscheinen wie Geister ohne Gesicht
und machen aus Venedig eine „Stadt voller Schemen und voller Erinnerungen an
Schemen“ (S. 14). So geistert die kulturelle und literarische Prominenz umher
als sei das Gestern ein Heute: Monteverdi, Proust, Wagner, Mann…. Sie lassen
den Erzähler zwischen Original und Kopie schwanken, zwischen einem Gemälde von
San Marco und seinem Original, das in unmittelbarer Nähe des vom Erzähler
besuchten Museum liegt und dennoch unerreichbar zu sein scheint. Schichten der
Vergangenheit erscheinen zeitgleich in der Gegenwart, durchsetzen sie mit über
Jahrhunderte geführten Konversationen zwischen Schriftstellern, Komponisten
oder Malern. Die „Träume des Anachronismus“ (S. 37) ermöglichen dem Erzähler
das Gespräch mit Petrarca und Boccacio in der Academia, den Dialog mit den
Malern Giovanni Battista Tiepolo, Vittore Carpaccio und Paolo Veronese oder die
Teilnahme am Frühstück, das Antonio Vivaldi und Georg Friedrich Händel einst
auf der Toteninsel San Michele abhielten wie es in der Novelle Barockkonzert
von Alejo Carpentier nachzulesen ist. Venedig ist „Hoheitsgebiet des Traumes“
(33), denn der Erzähler möchte sehen, was seine Vorgänger gesehen haben, kann
aber nur sehen, was sie nicht sehen konnten – „vorstellbare Vergangenheit“ und
„undenkbare Zukunft“ (S. 36) schieben sich ineinander. Doch die Kunsttradition
erschlägt ihre Betrachter auch, die Bedeutungen sind für die Touristen nicht
mehr verständlich, übrig geblieben sind nur die Schönheiten, die sie sich
ansehen. Wer Venedig wirklich erfassen will, hat es nicht leicht: „Der Kopf ist
voll, er vermag den Sprung durch die Jahrhunderte nicht mehr nachzuvollziehen
(…).“ (S. 64) Die Vergangenheit ist damit nicht nur ein Traum der Gegenwart,
sondern auch eine Last, die ein beklemmendes Gefühl auslöst. Aus beiden schöpft
die Imagination ihre Kraft, das anachronistische Venedig lebendig zu machen.
Das Umherirren im Labyrinth Venedig ist also offenbar die einzige Möglichkeit
Venedig kennenzulernen (S. 51). In dieser grenzgängerischen, unkoordinierten
Zwischenzeitlichkeit, in der Hoffnung auf einen unerreichbaren Ort liegt die
„Verheißung des Reisens“ (S. 39).
Und
so beschwört der Erzähler immer wieder den Moment des
„ersten-Mal-Venedig-sehen“, umkreist Venedig wie ein Geheimnis, wie eine Vision
in der Ferne, eine Spiegelung im brackigen Wasser (S. 29), ein Organismus, ein
Hort der Klischees, weshalb der Erzähler seine Gondelfahrt lange aufgeschoben
hat: „Zehn Mal in Venedig und zum erstenmal in einer Gondel.“ (S. 72). Aber:
„Wenn man nicht in einer Gondel gesessen hat, war man nicht in Venedig.“ (S. 73).
Ganz ohne Klischees geht es also auch nicht. Entscheidend ist nur, dass man in
Venedig nie endgültig ankommt. Mit dieser Erfahrung im Gepäck rüstet sich
der Erzähler einer anderen Miniatur: „Ich habe ein schier unermeßlich große
Karte der Lagune von Venedig gekauft, weil ich versuchen will, die Stadt auf
ihre richtigen Proportionen zurückzuführen, ein merkwürdiges Unterfangen. Ich
weiß, daß ich dort morgen, aus der Luft kommend, eintreffen werde und daß ich
mich der Stadt, die ich schon oft besucht habe, diesmal über das Wasser nähere.
Auf der Karte beträgt das Verhältnis Wasser zu Stadt vielleicht tausend zu
eins, in dem endlosen Blau ist die Stadt zu einem Städtchen geschrumpft, (…).“
(S. 51). In der Perspektive von Google Earth wird Venedig als eine gebrochene
Kniescheibe abstrahiert, bleibt eine „unendlich verlangsamte Titanic“ (S. 29),
wie ein Wunder, eine „greifbare Form der Ewigkeit“ (S. 30), die das Gefühl der
Fremdheit auslöst und auch für das Herumirren des Erzählers verantwortlich ist.
So bleibt nichts anderes festzustellen, als dass es Venedig nur im Plural gibt
(S. 31) und wie eine Sinfonie erklingt (S. 34), „ein Schiff voller Musik“ (S.
112). Das endgültige Ankommen in dieser Stadt wäre ihr Untergang und deswegen
darf „(…) zwischen Venedig und Venedig […] viel vergessen werden“ (S. 44). Nur
dann ist genug Platz für Venedig, nicht im sommerlichen Tourismus, sondern im
September, zu Allerheiligen oder im Januar, wenn der Erzähler diese Stadt
bereist. Nur dann ist Platz für die Vision einer leeren Stadt, die Idee ganz
alleine auf dem Platz San Marco zu stehen, in Finsternis und Stille. „Wer sein
eigenes Venedig finden will, muß hartnäckig sein und entschlossen, angetan mit
einem unsichtbaren Panzer, und demütig daran denken, daß er für jeden einzelnen
all dieser anderen auch nur ein anderer ist, der ihm vor die Füße läuft und im
offenen Mittelteil des Vaporettos unangenehm eng an ihn gedrückt steht, ohne
sich an irgend etwas festhalten zu können.“ (S. 52). Dass das Ich immer auch
ein anderer ist, steht zwischen diesen Zeilen geschrieben, die den Text an die
Grenzen der „Beschreibungskunst“ (S. 52) führen. Da helfen dem Erzähler auch
Hippolyte Taine, den er gelesen zu haben vorgibt, und die minuziöse
Beschreibungskunst des 19. Jahrhunderts nicht mehr, die sich ins 20.
Jahrhundert nicht übertragen lässt. Der Erzähler taucht vielmehr in die Bilder
ein, lässt sie von innen erneut lebendig werden, gibt den Anschein, sie seien
gerade erst im Entstehen. An die Stelle retrospektiv angelegter Beschreibungen treten
zuweilen Dialoge der Künstler mit ihren Zeitgenossen. Oder aber es durchbricht
der Alltag Venedigs die Beschreibungsvorgänge und ihre Reflexion: „Das Taxi
macht meinen Überlegungen ein Ende, es bricht das Wasser der weiten Lagune auf,
fliegt entlang der geometrischen Linie der Duckdalben über das, was Canale di
Tessera sein muß, und springt auf die Stadt zu, (…).“ (S. 53). Die Linien der
Kanäle und Zeitströme setzen sich am intensivsten in den unterschiedlichen
Stilprägungen der Kircheninnenräume fort. Dabei ist es nicht nur die
Kunstgeschichte, die sich wandelt, sondern die Kirchenräume zeigen zugleich
„Metamorphen von Religionen“ (S. 62): die barocke Pracht in I Gesuisti prallt
auf die „Raumstation“ (S. 54) San Giorgio im Gegensatz zur Schlichtheit der
Kirche Torcello und der „Apotheose des Verfalls“ (S. 70) von San Lorenzo. Wann
und wo wir also in Venedig sind, lässt sich nicht immer sicher sagen oder in
Aussicht stellen.
Flucht
nach Venedig? Zwar zieht es den Erzähler raus aus der hermetischen Abgeriegeltheit
Berlins und seiner Mauern, doch auch in Venedig gibt es Mauern, die allerdings
aus Wasser sind. Sie erzeugen ein Abgetrenntsein von der Welt, das nicht im
Gefühl und im Erlebnis des Gefangenseins mündet, sondern in jenem der
Befreiung. „Ich bin glücklich in Venedig, aber es ist ein Glück mit
Beigeschmack, vielleicht aufgrund der geballten Vergangenheit, des Übermaßes an
Schönheit, des Zuviels an Glück, der Spannung in diesem Labyrinth, das einen
mitunter mehrmals am Tag irgendwo in einem geschlossenen Hof, vor einer
Backsteinmauer oder vor einem Gewässer ohne Brücke stehen läßt, wodurch, was
sich öffnen sollte, sich plötzlich als verschlossen erweist und man umkehren
muß, zurück dorthin, woher man kam.“ (56-57) Flucht nach Venedig funktioniert also
nicht mehr. Weder für den Erzähler noch für den Leser. Dieser bleibt in diesem
Bändchen ganz auf sich gestellt, irrt ebenso herum wie dieser, weiß nicht immer
wo und wann er sich befindet. Auch die Fotografien von Simone Sassen, die den
Texten beigefügt sind, liefern eher einen weiteren Stein für das Mosaik
Venedig, einen weiteren Beigeschmack. Vor- und Nachwort, die ein paar
Informationen zu Autor und Text liefern könnten, gibt es ebenso wenig wie die
Orientierungshilfe eines Reiseführers, auf die sich der Erzähler berufen
könnte. Vielmehr macht er selbst sich zum Leser und das Lesen zum Weg nach
Venedig: „Und wenn ich etwas lese über einen jahrhundertealten merkwürdigen
Verteidigungswall [etwa in den Krimis von Michael Dibdin oder Donna Leon], dann
will ich sofort dorthin, es ist eine Methode, zu den Geheimnissen einer Stadt
vorzudringen.“ (S. 66) Die eigene Route schöpft der Erzähler aus den Bewegungen
der literarischen Figuren, zeichnet sie in seine „ziemlich graue Karte der
Lagune“ (S. 65) ein, folgt dann aber doch der Realität seiner eigenen
Geschichte, verlässt die Fußwege der Figuren und sucht selbst ihre
Handlungsorte auf, z.B. das Polizeipräsidium. Dieses gibt es nämlich im
Gegensatz zu den Protagonisten der gelesenen Werke wirklich. So springt der
Erzähler zwischen Fiktion und Realität Venedigs ebenso hin und her wie zwischen
ihrer und seiner Ab- und Anwesenheit: „Die Stadt, die ich vor einigen Wochen
verlassen habe, ist zu Papier geworden.“ (S. 82) Aus einem Ausschnitt der New
York Times erfährt der Erzähler von der Francesco-Guardi-Ausstellung im
Museo Correr, deren Stattfinden für ihn nicht nur an seine Abwesenheit gebunden
erscheint, sondern auch deshalb so erwähnenswert ist, weil dieser Maler mit
seinen Bildern „die Stadt zum Leben bringen konnte“ (S. 82) – Nooteboom schafft
es auch und zwar mit seiner Reiseliteratur, die ebenso Venedig präsent macht
wie ein hundert Jahre altes Buch von Louis Couperus von dem jener Zeitung
lesende Erzähler berichtet. „Durch das Schwarzweiß des körnigen Zeitungspapiers
sehe ich die Gemälde, wie man sie nicht sehen sollte, sie sind von einer
unheilbaren Gräue befallen, aber ich setze die Farben mit meiner Erinnerung und
meinem Heimweh ein.“ (S. 82) Gelingt die Flucht nach Venedig auch nicht mehr,
bleiben zumindest Sehnsucht und Erinnerung. Venedig ist ein Palimpsest, das
Komponisten, Maler, Erzähler wie Leser und Betrachter über Jahrhunderte
unaufhörlich erschaffen, aber nur solange sie bereit sind, immer wieder in
Venedig ein erstes Mal anzukommen. Wir Leser kommen also erst im Text an, wenn
wir wie der Erzähler bereit sind, das „ewige Labyrinth, in dem nur sie [die
Venezianer] Bescheid wissen, die Stadt, deren Unannehmlichkeiten sie ertragen
als Zeichen des Auserwähltseins“ (S. 109) immer wieder neu zu betreten, andauernd
anzukommen, ohne Ausgang und ohne Ziel, sich aus der „Überfülle“ (S. 91) der
Stadt zu lösen, um „in einem unbelasteten Niemandsland“ (S. 91) umherzustreifen
und Perspektiven zu wechseln. Diesen Perspektivwechsel vollziehen „Zwei
Gedichte“ gegen Ende der Venezianischen Vignetten von Cees Nooteboom.
Plötzlich wird das Ich durch die Er-Form ersetzt, die sich an das Jahr 1934
erinnert. Im zweiten Gedicht dann ist jener Protagonist in der Er-Perspektive
eine Figur, die von einem Passanten beobachtet wird wie uns der erneute
Ich-Erzähler berichtet. Dieser beginnt in der Lyrik Eugenio Montales zu lesen,
der in Venedig einst Ernest Hemingway interviewte, noch bevor er 1954 den
Literaturnobelpreis erhielt. Vielschichtig sind folglich nicht nur Zeiten und Räume,
sondern gleichermaßen Blick- und Erzählperspektiven. „Folgen Sie mir nur in
meinem Chaos, es hat schon seine Richtigkeit“ (S. 69), gibt uns der Erzähler
mit auf den Weg. Und: „Wer nicht an Bücher glaubt, hat hier nichts zu suchen.“
(S. 69). Genau darin besteht das Glück, wenn wir Nooteboom lesen: wir glauben
an Bücher und an Venedig.
Cees
Nooteboom: Venezianische Vignetten, Berlin: Insel Verlag 2013.