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Italienische Erstausgabe 2011 |
Nicola, ein arbeitsloser Gymnasiallehrer von 27 Jahren
erfährt keinerlei Anerkennung von seinem Vater. Für Ricardo ist Nicola längst
überfällig, sowohl beruflich als auch privat. Im ständigen Vergleich mit seiner
eigenen Biographie lässt Ricardo seinem Sohn keine Chance: In seinem Alter war
Ricardo längst verheiratet, musste mehrere Kinder durchbringen und hatte
bereits einige Jahre gearbeitet. Ricardo, der zwar den wirtschaftlichen
Aufschwung, die Aufbruchsstimmung und Erwartung einer besseren Zukunft nach dem
Zweiten Weltkrieg in Mailand erlebt hatte, hatte zugleich den damit verbundenen
Verlust der süditalienischen, ländlichen und familiären Heimat nicht
verkraftet. Verbittert blickt er in die Vergangenheit zurück, ist zweigeteilt
wie seine Sprache. Sprache ist in diesem Roman ohnehin ein Gradmesser der
persönlichen Beziehungen, des Generationenkonflikts und der gesellschaftlichen
Entwicklung einer Familie: der Chemiker Ricardo spricht Hochitalienisch mit
dialektalen Einflüssen, Leonardo ist bis heute Analphabet geblieben und spricht
einen italienischen Dialekt, der nichts mit der hochitalienischen Sprache zu
tun hat. Und Nicola? Er spricht keinerlei Dialekt mehr und ein reines
Hochitalienisch. Diese sprachliche Konstellation zeigt buchstäblich die
kommunikativen Schwierigkeiten zwischen den Generationen an. Sprachverlust ist
zugleich Vergangenheitsverlust. Die sprachliche Verfallsgeschichte wird dabei
in ungewohnte Richtung gedacht: der Dialekt verfällt zum Hochitalienischen. Mit
diesem verfallen die Familienbeziehungen zu standardisierten, distanzierten
Rollenmustern, die nicht mehr durch Vertrauen, Liebe und Austausch
gekennzeichnet sind. Großvater, Vater und Sohn bzw. Enkel verstehen einander
nicht mehr, weil sie nicht mehr dieselbe Sprache sprechen. Nicola spricht den
Dialekt des Großvaters nicht und versteht ihn kaum. In diesen letzten Tagen,
die sie in der Wohnung der Großeltern am Meer in Barletta verbringen, wird ihm
bewusst, „wie armselig dieser Rest war, dieses Überbleibsel“ (S. 169), der ihn
zwar verstehen, aber nicht mehr in der ursprünglichen Sprache sprechen lässt.
Trotz dieser sprachlichen Distanz zwischen Großvater und Enkel, pflegen sie
allerdings eine viel verständnisvollere und lebensfröhlichere Beziehung. An die
Stelle des streitsüchtigen Konflikts tritt die Akzeptanz des anderen so wie er
ist, während Ricardo an seinem Sohn kaum ein gutes Haar lässt.
Auf der Reise nach Barletta geraten die drei
Generationen zwar noch einmal ins Gespräch, jedoch überwiegen Streit,
Unverständnis und Schweigen. Die Kommunikationsprobleme werfen die Frage auf,
was wir eigentlich voneinander wissen. Die Gespräche über Gott und
Glaubensfragen, Denk- und Erfahrungsweisen sowie die Erinnerungen an die
Kriegsgeschichte werden zwar während eines Klosteraufenthalts wach, das
Schweigen und die Entfremdung der Generationen und ihrer Lebensweisen können
jedoch auch diese nicht überwinden. Bis zum Schluss bleibt der Verkauf der
Wohnung ein Streitpunkt. Die Säuberung der von Tauben beschlagnahmten Terrasse
der Wohnung mutet wie ein martialischer Abschied von der Heimat an. Dieser
Abschied ist ein Kampf eines für die Heimat längst Verlorenen – Leonardo wie
auch Riccardo. Und so kämpft auch nicht Leonardo um den Erhalt seiner Wohnung,
in dem er den Hauptteil seines Lebens als apulischer Bauer verbracht hat,
sondern es ist sein Enkel Nicola, der dieses Haus gerne behalten hätte, obwohl
er darin bis auf ein paar Sommerferien gar nicht gelebt hat. Auch Ricardo hängt
nicht besonders an dem Haus, hat der eigentliche Verlust der Heimat und der
Wohnung in viel früheren Jahren stattgefunden, nämlich als er mit seinen Eltern
Leonardo und Anna nach Mailand zog. Während der Verkauf der Wohnung also eher
wie eine logische Konsequenz des Lebenslauf der beiden Älteren erscheint, ist
für den jungen Nicola, der noch nicht recht Fuß gefasst hat in seinem Leben,
das Haus am Meer ein Ort der Träume, der Erinnerungen, die wertvoller scheinen
als seine realen Erfahrungen in der Gegenwart. Nicht zuletzt, um seinem Vater
zur Last zu fallen, sondern auch wegen dieser imaginären Bindung an das Haus,
beschließt er seinen Vater und Großvater nach Barletta zu begleiten.
„Zu Hause ist man da, wo die Menschen wohnen, mit
denen man sein Leben verbracht hat, und jetzt ist das hier.“ (Balzano, S. 27)
Wo also ist Heimat und ist sie dasselbe wie das Gefühl
Zuhause zu sein? Wie verhalten sich Herkunft und Heimat zueinander? Sind es
Erfahrungen, Erinnerungen oder vielmehr Träume, die, wenn wir sie an Orte
heften, das Gefühl von Heimat herstellen? Kann Heimat zu einer Last werden? In
Mailand spricht man über den Verfall des Hauses nicht gern, doch Leonardo macht
sich nichts vor: „Für ihn war diese Verwahrlosung ein Spiegel des Verfalls der
Familie. Und er hatte recht.“ (Balzano, Seite 23).
An einem Freitag machen sich die drei Männer mit ihrem
Fiat Punto auf den Weg nach Barletta und schon am Dienstag trennen sich ihre
Wege wieder. So wenig es ein gemeinsames Interesse am Haus gibt, gibt es auch
keine gemeinsame Heimaterfahrung und keine gemeinsame Heimreise: Großvater
Leonardo fährt mit dem Zug nach Mailand zurück, der Vater Riccardo fährt mit
dem Auto weiter zu Geschäftsterminen und der Sohn bzw. Enkel Nicola fährt mit
dem Bus nach San Ferdinando zu Caterina, seiner Großmutter mütterlicherseits,
die als einzige Verständnis für den „modernen“ Werdegang ihres Enkels zeigt. Es
wird damit am Schluss noch einmal verdeutlicht, was ein Grundzug der ganzen
Geschichte ist, nämlich dass sich die Generationen zunehmend auseinanderleben
und auch nicht wieder zueinanderfinden, dass sich dieser Verlust – sei es eine
Erfahrung der Vergangenheit oder der Gegenwart wie für Nicola – nicht
kompensieren lässt. Unüberwindlich ist die Erfahrung, dass mit dem Verlust des Ortes
auch eine Zeit verloren geht oder umgekehrt: Der Versuch am schönen Schein
Barlettas festzuhalten wie es v.a. Leonardos Frau Anna tut, ist der Versuch die
längst vergangenen Jahre in der Heimat festzuhalten.
„Kurz und gut, sie kämpfte darum, ein Verhältnis zum
Raum zu bewahren, da man das Verhältnis zur Zeit nicht bewahren kann.“
(Balzano, 132)
Geht es zwar um einen bestimmten Ort, das Städtchen
Barletta, befördert die Spannung dieses Ortes zur norditalienischen Metropole
Mailand v.a. Reflexionen von Zeit hervor. Nicola schwärmt von seiner Lektüre
Prousts, dessen La recherche du temps perdue für ihn das schönste Buch
überhaupt ist. Mit der Proust’schen „mémoire involontaire“ lässt sich sogleich
sein Verhältnis zur Heimat seiner Eltern und Großeltern beschreiben: Prousts La
recherche du temps perdue ist eine fiktive Autobiographie: ein weitgehend
anonymes Ich versucht vergeblich sich an seine Kindheit und Jugend zu erinnern.
Was ihm willentlich nicht gelingt, ermöglichen ihm schließlich eine Reihe „unwillkürlicher
Erinnerungen“ – Sinnesassoziationen, welche Erlebnisse der Vergangenheit auf
intensive Weise vergegenwärtigen und damit erinnerbar machen. Das berühmteste
Beispiel ist der Geschmack einer in Tee getauchten Madeleine, der den Ort
seiner Kindheit (Combray) in ganzer Fülle wiederauferstehen lässt. Klar ist
auch für Nicola: Erinnerung ist etwas höchst Subjektives und in der Erinnerung
ist es möglich, Zeit für einen Moment aufzuheben. Im Augenblick der Erinnerung
fließen Vergangenheit und Gegenwart ineinander. Zeit gerät dabei zunehmend
durcheinander. In den Gesprächen mit seinem Großvater und Vater ebenso wie in
den Phasen des gemeinsamen Schweigens spürt Nicola, „dass sich in bestimmten
Raumausschnitten die Zeit unvermeidlich staut und das diese die Zeiten sich
zuweilen ineinanderschieben, verheddern, sich vermengen ohne eine Möglichkeit,
die zusammengepressten Schichten voneinander zu trennen.“ (S. 182) Dass für den
Großvater die alte Zeit unwiederbringlich ist, zeigt beispielhaft der Tod seines
alten Freundes Ciccillo aus der kommunistischen Sektion früherer Jahre.
Ricardos positives Erinnerungsvermögen wiederum ist gänzlich blockiert durch
den Schmerz des (zu früh) erfahrenen Heimatverlustes. Eine positive Erinnerung
und die Chance auf das Glück der Heimat werden folglich erst in der dritten
Generation, nämlich mit Nicola, wieder möglich. Und so endet die in diesem
Roman aufgespannte „Theorie der Breitengrade“ (Balzano, S. 189) am Meer als
einem offenen Raum, in den Nicola hineinschwimmt wie in seine ungewisse Zukunft
als Gymnasiallehrer. Das Meer verschafft ihm eine neue Perspektive:
„Ich schwamm in dem immer noch flachen und trüben
Wasser, legte den Kopf zurück und fuhr mir mit den Händen durchs Haar. Ich
weinte grundlos. Eine unbestimmte Zeit lang.
Ich hatte keinen Ort mehr, an den ich zurückkehren
konnte. Die Fantasie wurde um einen lichten Raum ärmer, der dazu gut war, sich
vom Ansturm der immer gleichen Tage zu erholen. Mailand, nichts als Mailand,
(…) Und doch, die Stadt, vom Meer aus gesehen, die Palmen, die schuppenartigen
Fassaden, die dicht gedrängten Buckel der Häuser der Altstadt hatten nichts mit
mir zu tun, außer dass ich dort einen Widerhall jener zwei oder drei
Schnappschüsse verblasster Erinnerungen wiederfand. Dennoch weinte ich. Dennoch
fühlte auch ich mich entwurzelt, fühlte, dass ich es immer gewesen war.“
(Balzano, S. 199-200)
Im offenen Meer schwimmend wird sich Nicola über seine
eigene Heimatlosigkeit und Einsamkeit bewusst, die er sowohl in Barletta als
auch in seiner Geburtsstadt Mailand empfindet. Bei aller Trauer geht sein Weg
jedoch ins Offene, während der Großvater aus der fremd gewordenen alten Heimat
Barletta in die Fremde der neuen Heimat Mailand zurückkehrt und sich Ricardo
ins Nirgendwo unpersönlicher Geschäftstermine flüchtet. Für Nicola aber ist
alles offen: „Ich schwamm ins Offene.“ (Balzano, S. 200) Heimweh gibt es für
den Kommenden und Gehenden schließlich nicht: „Aber Heimweh spürte ich nicht,
vielleicht war ja gerade das hier der Ort meiner Sehnsucht, das Meer, wo ich
nicht wusste, welche Richtung ich einschlagen sollte, das Gassengewirr hinter
den Promenaden, eingefügt in eine Zeit, die jede schon gewesene Zeit sein
konnte.“ (Balzano, S. 219) Damals, am Meer. Lesen wir also Balzano, am besten
noch heute.
Marco Balzano, Damals am Meer, aus dem
Italienischen von Maja Pflug, Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag 2013; Die
deutsche Erstauflage erschien 2011 im Verlag Antje Kunstmann in München.
Italienische Erstausgabe: Marco
Balzano, Il figlio del figlio, Roma, Avagliano 2011.